Von Paula Sardow
In letzter Zeit gab es vermehrt Fälle, in denen Künstler wegen „kultureller Aneignung“ von Veranstaltungen ausgeladen oder gar laufende Konzerte abgebrochen wurden. Ein neuer Fall zeigt nun, dass diese besondere Art der Cancel Culture nicht nur auf Prominente abzielt, sondern inzwischen auch gegenüber einfachen Menschen praktiziert wird: Der Förderantrag eines Paritätischen Familienzentrums für eine Sommerfreizeit, die sich besonders an Kinder aus armen Verhältnissen wendete, wurde abgelehnt. Begründung: In dem Antrag wurde das Wort „Indianer“ verwendet, und dies sei „kulturelle Aneignung“.
Was ist kulturelle Aneignung?
Wikipedia, stets als erstes zur Stelle, wenn man sich informieren möchte, erklärt es so: Die „Übernahme von kulturellen Ausdrucksformen oder Artefakten, Geschichte und Wissensformen von Trägern einer anderen Kultur oder Identität.“ Und im engeren Sinne: „wenn Träger einer ‘dominanten Kultur’ Kulturelemente einer ‘Minderheitskultur’ übernehmen und sie ohne Genehmigung, Anerkennung oder Entschädigung in einen anderen Kontext stellen.“ Weiter heißt es in Abgrenzung zum kulturellen Austausch und hier frei wiedergegeben: Übernommene Bestandteile kultureller Identität werden zur Ware gemacht und somit trivialisiert, sie werden oftmals falsch oder verzerrt reproduziert, was zur Förderung von Stereotypen führen könne. Hier stellt sich die Frage: Wer definiert eigentlich, an welcher Stelle kulturelle Aneignung im Sinne von Kommerzialisierung oder eine Förderung von Stereotypen stattfindet?
Da es für die Sittenpolizei derzeit (noch) keine Aufgabe ist, diese Dinge zu überprüfen, bleibt es in der Regel wohl beherzten Mitmenschen überlassen, diesen intolerablen Handlungen den Riegel vorzuschieben. In den drei genannten Fällen handelt es sich jeweils um eine kleine Gruppe von Mitmenschen: einige Besucher des Konzerts und die Veranstalter, den Ortsverband Hannover und den Integrationsfachbeirat Hannover-Ricklingen. Sie erkannten zu einem bestimmten Zeitpunkt die „Misere“ und gingen dagegen vor. Die Namen der einzelnen Personen wird man übrigens nicht ohne Mühen erfahren, da sie sich in der Anonymität ihrer jeweiligen Gruppe verbergen. Die Besucher des Konzerts haben nach ihrer Beschwerde beim Veranstalter die Brasserie schnell verlassen. Die Entscheidungen der Gremien sind selbst nach Bekanntgabe der Beisitzerinnen und Beisitzer der Öffentlichkeit nicht zugänglich. Die Verantwortung wird in den Gruppen aufgeteilt: mindestens in die Rolle der Kläger, also diejenigen, die den vermeintlichen Missstand erkannt und benannt haben, und diejenigen, die die Sanktionen vornehmen. Auch diese „Arbeit“ erfordert mehrere Zwischenschritte, die sich auf weitere Personen verteilen lässt und wofür man dann als Einzelner nicht geradezustehen braucht.
Allen gemein ist nicht nur die Vorgehensweise, sondern auch, was in Kauf genommen wird, um die vermeintlichen Ignoranten gegenüber jahrzehntelangen durch Rassismus unterdrückten Kulturen zur Strecke zu bringen. Diese Menschen werden nachhaltig und auf gleich mehreren Ebenen empfindlich beeinträchtigt: Die Ausübung der Tätigkeit wird behindert bzw. nicht erlaubt, was finanzielle Folgen nach sich zieht; die Reputation und der Ruf der Personen wird medial in Frage gestellt, was mit psychischem Druck, Rechtfertigungszwang und öffentlichen Stellungnahmen verbunden ist und was in jedem Fall auch persönliche Folgen haben dürfte.
Diese Helden, die sich für die Sensibilisierung von Ausgrenzung und Ausbeutung einsetzen, eint in ihrem Vorgehen, dass sie scheinbar nicht in der Lage sind, das Gespräch mit ihren Mitmenschen zu suchen, also mit denen, die gegen die Regeln erlaubten kulturellen Austauschs verstoßen. Im Gegenteil, sie wenden sich an diejenigen, die Macht haben, den Missstand zu beheben und die unliebsamen Zeitgenossen in irgendeiner Form zu sanktionieren.
Alle Beteiligten bedienen sich selbst der Mittel von Ausgrenzung und schaffen somit ein scheinbares Paradox, bei dem man sich fragen muss, warum die Bekämpfung der in diesem Fall vermeintlich profitgierigen Rastafri-Locken-Träger und des Paritätischen Familienzentrums so erfolgreich war.
Die Antwort ist nicht nur in der Begrifflichkeit „kulturelle Aneignung“ zu suchen sondern auch in den Handlungsspielräumen der Menschen, die sie anwenden. Wie bei Wikipedia schon ausführt, kann sie mehrdeutig verstanden werden. Das Wort „Aneignung“ selbst impliziert eine negative moralische Wertung, bei dem die Bedeutung mitschwingt, etwas zu nehmen ohne etwas dafür zurückzugeben. Der Duden beschreibt: „widerrechtliche Besitznahme“, „Eigentumserwerb herrenloser Sachen oder Tiere“ und das „Lernen“ (ebd.). Die Aneignung kultureller Dinge bedeutet demzufolge von vornherein etwas Negatives und ist damit hervorragend geeignet, um Negativaussagen über andere zu treffen, weil genügend Spielraum bleibt, die mit diesem Vorwurf behafteten Menschen mit weiteren und verdeckten Negativattributen zu versehen: Wer sich kulturell etwas aneignet, kann nur unaufgeklärt, ignorant, profitgierig, wenn nicht gar rassistisch sein. Es lässt sich also mit zwei Worten etwas ausdrücken, wofür man normalerweise in Erklärungsnöte und Argumentationsschwierigkeiten geraten würde.
Dumm nur, dass es in allen drei Fällen Mitmenschen getroffen hat, denen man diesen Vorwurf nicht zur Last legen konnte. Wie die Wiedergutmachung aussah? Nun, man entschuldigt sich leise und persönlich, aber keinesfalls öffentlich – ein weiteres Merkmal, das typisch ist für hinterhältige Vorgehensweisen. Von der Berichterstattung hat man sich auch an dieser Stelle erhofft, dass sie der Sache nachgehen – umsonst.
Die Möglichkeiten, gesellschaftlich moralisierend aufzutreten, Mitmenschen durch Ausgrenzung zu bestrafen und, wenn das Mittel den Zweck heiligt, Konventionen des Miteinanders und Gesetze zu verletzen, sind nicht neu und werden uns täglich vor Augen geführt: mediales und faktisches Ausgrenzen von Menschen, die sich kritisch gegenüber den Covid-19-Spritzen äußern oder sich nicht spritzen lassen können oder wollen; das Abstempeln von Mitmenschen, die im Frühjahr am Ostermarsch teilnahmen (A.G. Lambsdorff: Ostermarschierer sind „die fünfte Kolonne Putins“); und ganz aktuell die Einordnung möglicher Proteste gegen Armut im Herbst: „Experten befürchten bereits, dass es im Herbst soziale Proteste gibt, die sich rechtsextreme Gruppen zunutze machen könnten“, sie könnten „von Verfassungsfeinden unterwandert werden“ und „Russland könnte sich von außen einmischen“ um den Staat zu destabilisieren. In der ARD-Sendung, aus der diese Zitate stammen, erfährt man leider nicht, welche Experten diese Einschätzung abgegeben haben, denn die Personen, die auftreten, liefern lediglich Randinformationen zum Thema. Schon jetzt wird deutlich, dass es nicht um die Menschen gehen wird, die möglicherweise verhungern oder erfrieren könnten, die Schwächsten in unserer Gesellschaft. Entscheidend ist die Botschaft: Bleib brav zu Hause, erdulde alles und halte den Mund, damit du nicht zum Staatsfeind abgestempelt wirst. Da kann man ja nur auf einen schnellen Klimawandel hoffen, damit der Winter nicht so kalt wird!
Wer weitere Wischiwaschi- oder Gummibegrifflichkeiten nutzen möchte, um seine Mitbürger erfolgreich anzuschwärzen, wird staatlicherseits herzlich dazu eingeladen. „Delegitimierung des Staates“ ist die neue Begrifflichkeit und erfüllt alle Voraussetzungen dafür. Die Kriterien sind schwammig, die Grenzen, wo das Recht zur freien Meinungsäußerung aufhört und der Staat angegriffen wird, sind unklar, und die moralische Entrüstung ist auch schon enthalten.