von Jochen Hering
Wenn wir zu hoffen aufhören, kommt, was wir befürchten, bestimmt.
Ernst Bloch
Das kapitalistische Wirtschaftssystem ist den staatlichen und sozialen Lebensinteressen des deutschen Volkes nicht gerecht geworden. Nach dem furchtbaren politischen, wirtschaftlichen und sozialen Zusammenbruch als Folge einer verbrecherischen Machtpolitik kann nur eine Neuordnung von Grund aus erfolgen. Inhalt und Ziel dieser sozialen und wirtschaftlichen Neuordnung kann nicht mehr das kapitalistische Gewinn- und Machtstreben, sondern nur das Wohlergehen unseres Volkes sein. Durch eine gemeinwirtschaftliche Ordnung soll das deutsche Volk eine Wirtschafts- und Sozialverfassung erhalten, die dem Recht und der Würde des Menschen entspricht.
CDU, Ahlener Programm, 1947
Im Hamsterrad des kapitalistischen Wirtschaftens
Ohne sinnlosen Konsum wäre das System längst am Ende. Oberstes Ziel des kapitalistischen Wirtschaftens sind Profite. Wenn Bedürfnisse befriedigt sind, müssen neue her. Denn: Nur immer weiteres Wachstum hält Wirtschaft und Profite in Schwung. Schauen wir uns um! Die Menschen in den Industrieländern sind mit Waren überfüttert und leben in materieller Adipositas. Was tun?
Kapitalistisches Wirtschaften braucht überflüssigen Konsum, damit weiter produziert und profitiert werden kann. 2020 gab es in Deutschland 199 Millionen ungenutzte Althandys; 40 Prozent aller Kleidung lag ungebraucht in den Schränken! Weltweit wird ein Drittel der produzierten Lebensmittel weggeworfen, allein bei uns 11 Millionen Tonnen pro Jahr! Die Sinnlosigkeit dieser Überproduktion soll möglichst nicht auffallen. Sie soll als selbstverständlich, naturwüchsig und unabänderlich von den Menschen akzeptiert werden.
Das gewalttätige Schwungrad im Hamsterkäfig
Um den Kreislauf aus sinnloser Arbeit, Überfluss und Wegwerfen weiter in Schwung zu halten, werden seit Jahrzehnten die immer selben schlichten Strategien genutzt (man könnte auch von „Strategier“ sprechen), allerdings mit zunehmender Gewalttätigkeit.
Gewalt als geplanter Verschleiß
Billigproduktion von schlechter Qualität, seien es Hosen, Autos oder Elektrogeräte. Reparaturen sind oft unmöglich (verschweißte Elektrostecker).
Gewalt als Neukaufzwang
Völlig intakte Geräte müssen durch gewalttätige künstliche Veralterung in immer kürzeren Abständen neu gekauft werden. Beispiel: Zwischen Microsoft Word 2010 und 2019 gibt es keinen fundamental technischen Unterschied oder gar Fortschritt. (Noch 2017 zeigte eine Umfrage, dass 83 Prozent der befragten Unternehmen Office 2010 einsetzten. 2020 wurde der Support für das Programm eingestellt.)
Psychische Gewalt
30,9 Milliarden Euro wurden 2016 in Deutschland für Werbung ausgegeben. 27,3 Milliarden waren es 2016 für Bildung im Elementarbereich.Mit bunten Bildern, gekauften Prominenten und, wenn es sich lohnt, auch frechen Lügen (die Milchschnitte ist keine leichte Zwischenmahlzeit, sondern besteht zu 60 Prozent aus Fett und Zucker!) kommt die Werbeindustrie daher. Je unsicherer Menschen in sich selbst sind, je weniger selbstbewusst, desto einfacher ist es, ihnen einzureden, dass sie mit dieser oder jener Ware anziehender, beeindruckender, glücklicher und erfolgreicher sind. Kauf, und dir ist geholfen!
Psychologische Veralterung: Kauf dich glücklich
Wer unsicher ist, möchte nicht zu den Abgehängten gehören. Er oder sie möchte „on top“ sein, „hype sein“, „dabei sein“ und auf jeden Fall „dazugehören“. Alles richtig gemacht, wenn die Jeans nur löchrig ist und unten eng! Kurz danach hat sie dann unten weit zu sein. Kauf sie! Oder du bist draußen!
Die Modekette Zara bietet 25 Modekollektionen pro Jahr an. Das Neue als das Immergleiche! Wer nicht dem saisonal vorgefertigten Schönheitsideal entspricht, kann mit Kosmetika, Kleidung, Auto oder einer Schönheits-OP Erlösung finden. 2018 gab es hierzulande etwa 386.000 Schönheitsoperationen (Brustvergrößerung, Fettabsaugung, Lidstraffung etc.)
Die totale Warengesellschaft – Privatisierung und Verkapitalisierung unserer Grundbedürfnisse
Zunehmend mehr sind Markt und Verbrauch gesättigt. Der gewalttätige Kreislauf von Überfluss und Wegwerfen stößt an seine Grenzen. Jeder hat schon ein Handy, Textilien satt, Flachbildfernseher und und und. Was tun, wenn alle alles haben? Woher Wachstum fürs Hamsterrad nehmen? Woher neue Profite nehmen? Wo kann noch „so richtig“ verdient werden? Eine dazu bislang von den Reichen, den Kapitalgesellschaften und ihren Lobbyisten verfolgte „Strategier“ ist die immer weiter gehende Privatisierung von Grundbedürfnissen.
Einer Sendung des SWR2 ist zu entnehmen: Nur ein Prozent der Pflegeheime und vier Prozent der Krankenhäuser bieten Essen an, welches den Standards der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE) entspricht. Ausgaben für die tägliche Nahrung liegen in vielen Fällen bei 3,50 bis 4,50 Euro. Laut DGE bräuchte es 6,00 Euro, für eine vitale Ernährung.
1987 gab es noch 3,9 Millionen Sozialwohnungen im damaligen Westdeutschland. 2018/19 gab es noch 1,18 Millionen in ganz Deutschland. Die Mietpreise in unseren Großstädten liegen mittlerweile bei 11 bis 18 Euro pro Quadratmeter. Für eine 50 Quadratmeter große Wohnung liegen die Kosten also bei 550 bis 900 Euro, warm dann bei etwa 770 bis 1.020 Euro. Einer Pflegefachkraft mit Bruttoeinkommen 2.000 Euro bleiben etwa 1.450 Netto. Da fallen in unseren Großstädten ganze Stadtteile vom Angebot her (man könnte auch sagen „vom Grundrecht Wohnen“ her) weg. Der Wohnungskonzern Vonovia hat 2021 seinen Aktionären (BlackRock, JP Morgan u. a.) fast eine Milliarde Euro überwiesen. Das war mehr als ein Drittel der Mieteinnahmen.
Auf Kollisionskurs mit den Menschen
Das kapitalistische Wirtschaftssystem verspricht Wohlstand für Alle. Das mag für Handys, Textilien und Autos stimmen. Aber wenn wir nicht nur auf materiellen Wohlstand, sondern auch auf Zufriedenheit oder gar Glück, Gesundheit und gesundes Leben schauen, dann stellen wir fest: Wir leben in einer Mangel- und Unglücksgesellschaft, die vom öffentlichen Glanz der Warenhäuser und Einkaufsplattformen mühsam überdeckt wird. Das Unglück wird ins Private abgedrängt.
Einige Zahlen zum Alltag in dieser unserer Unglücks-Gesellschaft:
- Laut Robert-Koch-Instituts sind in Deutschland etwa die Hälfte der Frauen und zwei Drittel der Männer übergewichtig. Fast ein Fünftel der Männer und Frauen sind sogar stark übergewichtig (adipös).
- Insgesamt drei Millionen Erwachsene zwischen 18 und 64 Jahren hatten im Jahr 2018 in Deutschland eine alkoholbezogene Störung (Alkoholmissbrauch: 1,4 Millionen; Alkoholabhängigkeit: 1,6 Millionen).
- An einer depressiven Erkrankung leiden (Zahl aus 2015) 5,3 Millionen Bundesbürger. 2019 sind es laut RKI fast 6 Millionen.
- Schätzungen gehen von 1,4 bis 1,5 Millionen, zuweilen sogar von 1,9 Millionen medikamentenabhängigen Menschen innerhalb der Erwachsenenbevölkerung aus.
- Aktuell haben in Deutschland mindestens 6,9 Millionen Menschen einen dokumentierten Typ-2-Diabetes. Mitursachen hierfür sind Übergewicht und Bewegungsmangel.
- 3,4 Millionen Menschen (Zahlen aus 2021) oder 7 Prozent der Menschen ab Vierzig leiden an der unheilbaren Lungenkrankheit COPD. Ursachen sind Rauchen und Feinstaubbelastung (verursacht durch Verkehr, industrielle Landwirtschaft und Massentierhaltung).
Zusammenfassend lässt sich sagen: Die Menschen physisch wie psychisch krank zu machen, hat System. Wie anders wären diese alarmierenden Zahlen sonst zu erklären? Jeder Kranke und Unglückliche (kauf dich glücklich!) ist in der kapitalistischen Wirtschaftsform ein willkommener Konsument. Er sorgt für neue Profite u. a. in der Pharmaindustrie. Aus seinem oder ihrem Elend wird neuer Profit geschlagen. So gab es auch von Seiten der politisch und wirtschaftlich Verantwortlichen im Rahmen der Coronapolitik keine breit angelegten Überlegungen zur Stärkung des Immunsystems (durch Bewegung, gesundes Essen, Stressfreiheit) in der Bevölkerung. Solche Maßnahmen lassen sich ja auch – im Unterschied zu Impfungen – nur schwer in Waren verwandeln.
Auf Kollisionskurs mit Raumschiff Erde
Kapitalistisches Wirtschaften mit sinnloser Überproduktion und Wegwerfmentalität bedeutet auch: Kollisionskurs mit dem Planeten Erde und seinen begrenzten Ressourcen. Auch hierzu nur einige Zahlen:
- Die Bestände von Säugetieren, Vögeln, Amphibien und Reptilien sind (Stand 2018) in Süd- und Zentralamerika gegenüber 1970 um 89 Prozent geschrumpft.
- Zwischen 1970 und 2014 sind Wirbeltier-Populationen im Schnitt um 60 Prozent zurückgegangen. Je nach Lebensraum sind zwischen 25 und 42 Prozent der wirbellosen Arten, zu denen auch Insekten gehören, vom Aussterben bedroht. Der Rückgang der genetischen Vielfalt gefährdet wiederum die Nahrungsmittelproduktion.
- Tiere und Pflanzen in den Ozeanen werden durch Plastikmüll vernichtet. Plastiktüten und Mikroplastik wird für Nahrung gehalten, weshalb die Meeresbewohner und -anwohner den Magen voller unverwertbaren Stoffe haben und verhungern. Mikroplastik verhindert auch das Durchdringen der Sonnenstrahlen bis zum fruchtbaren Meeresboden. Die Sauerstoffzufuhr versiegt, die Lebensgrundlage für Fauna und Flora im und am Wasser (Mikroorganismen) verendet.
- Überall auf der Welt sind die natürlichen Lebensräume von Pflanzen und Tieren bedroht. Das gilt auch für Deutschland und die EU: Bis zu 81 % der Lebensräume auf EU-Ebene befinden sich in einem mangelhaften Zustand, wobei Moore, Grünland und Dünenlebensräume sich am meisten verschlechtern.
- Einer von fünf Todesfällen weltweit geht auf die Luftverschmutzung durch Kohle, Benzin oder Diesel zurück. Im Jahr 2018 starben demnach mehr als acht Millionen Menschen an Krankheiten, die auf die besonders kleinen Feinstaubpartikel zurückgeführt werden.
- Die Frischwasserqualität hat sich in den meisten Regionen der Welt seit 1990 verschlechtert, was an der Verschmutzung mit Keimen, Chemikalien, Schwermetallen oder Pestiziden liegt. 1,4 Millionen Menschen sterben deshalb jährlich an vermeidbaren Erkrankungen wie Durchfall und Parasiten.
- Und, aus aktuellem Anlass: Ebola, Sars, Dengue-Fieber, Malaria, das Nipah-Virus – die Weltgesundheitsorganisation zählt jedes Jahr rund 200 Ausbrüche von Viruserkrankungen, vor allem in Afrika. Vielen Erregern gelingt der Sprung über Artgrenzen hinweg, und er befällt den Menschen, denn: Je mehr die natürlichen Lebensräume von Wildtieren zerstört werden, desto mehr wächst die Wahrscheinlichkeit des Übersprungs von Viren von Tier zu Tier und dann zum Menschen. Unsere Konsumgewohnheiten zerstören natürliche Lebensräume, zum Beispiel den Regenwald durch Palmölplantagen (u. a. für Kosmetika) und durch Sojabohnenanbau (für Fleischerzeugung in Massentierhaltung).
Die Schönredner – alles soll bleiben, wie es ist
Damit das alles so bleibt wie es ist, gibt es im Wesentlichen drei Institutionen (als Gatekeeper):
Da sind einmal die so genannten Volksparteien und ihre Politiker, die auch Mehrheitswünsche der Bundesbürger (82 Prozent wollen stärkere Kontrolle von Lobbyisten, 69 Prozent wollen die Lebensmittelampel usw.) nicht umsetzen, dafür aber die Interessen der großen Konzerne sichern (seit Jahren werden Konzerne wie Amazon kaum besteuert). Politik im Sinne des Gemeinwohls sieht anders aus.
Etwa 5.000 Lobbyisten, von Konzernen und Interessengruppen bezahlt, verwässern z. B. Gesetze, die dem Gemeinwohl dienen, aber den Interessen ihrer Auftraggeber zuwiderlaufen.
Da ist die Massen-Presse, ohne konsequente am Gemeinwohl interessierte Berichterstattung, wie es sich für eine demokratische Presse gehören würde. Dafür wird vieles verschwiegen oder taucht nur am Rande auf. Geboten wird stattdessen eine alltägliche Unübersichtlichkeit. Kritische Artikel, die es auch gibt, bleiben „Aufreger“, die am nächsten Tag vom nächsten „Aufreger“ abgelöst werden. So geht eine scheinbare Kritik Hand in Hand mit dem „Immer-weiter-so“.
Ein Beispiel dafür, wie und was die Presse verschweigt, ist die Lüge von der Unbezahlbarkeit der Renten. Unter der Überschrift „Die Probleme heute“ schreibt ein Herr Eickmeier im Weser-Kurier vom 19. Januar 2020: „Klimarettung, digitaler Umbau der Industrie, die Suche nach einem mutigen neuen Rentensystem, das sowohl der alternden Gesellschaft als auch den jungen Beitragszahlern Rechnung trägt“. Wie viele andere stellt Eckmeyer den demografischen Wandel (immer mehr Menschen werden immer älter) als Verursacher der Rentenkrise an den Pranger. Weiß er es nicht besser? Plappert er nach? Übernimmt er, was andere vor ihm geschrieben haben, ohne die Mühe eigener Recherche? Dass die Renten unsicher sind, weil wir so viele Alte haben und die Jungen das so nicht mehr stemmen können, wird seit Jahren in der Presse im Tagesrhythmus wiederholt. Das ist zwar falsch, aber wenn man etwas nur lange genug wiederholt, stellt sich doch bei vielen der Eindruck ein: „Da muss doch was dran sein!“.
Schauen wir auf die Fakten.
Ab 2004 explodieren die Unternehmensgewinne und Vermögenseinkommen. Die Reallöhne steigen zwischen 1991 und 2016 um 9 Prozent, die Unternehmensgewinne im selben Zeitraum um mehr als 100 Prozent. 40 Prozent der Deutschen verdienen heute 2.000 Euro netto oder weniger. Sie können sich auf eine Rente von etwa 860 Euro freuen, das heißt Millionen Menschen (aktuell etwa 13 Millionen) landen in der Altersarmut.
Deutschland gehörte 2018 zu den Exportweltmeistern (Platz 3 hinter China und USA) mit einem Handelsbilanzüberschuss von 275 Milliarden Euro (Platz 2 weltweit, hinter China, vor Russland und USA). Mit anderen Worten: Deutschland gehört zu den reichsten Ländern der Welt. Und Millionen Menschen hierzulande (vor allem Frauen) werden in die Altersarmut geschickt. Was, bitteschön, hat das mit den Generationen, mit den Jungen und Alten zu tun?
Es wird genug erwirtschaftet für das Auskommen aller. Aber weil Banker, Finanzjongleure, Wirtschaft, Wohnungsbaugesellschaften, Politiker, Spekulanten, Lobbyisten usw. sich gierig ein Riesenstück vom Kuchen aneignen (für den alle arbeiten und gearbeitet haben), gehen die anderen (Polizisten, ErzieherInnen, PflegerInnen, Krankenschwestern, KassiereInnen, Müllwerker, Paketboten …) leer aus. Und die Presse schreibt Tag für Tag – im Einklang mit Politikern und Lobbyisten –, das wäre eine Folge der Alterspyramide.
Gemeinwohl statt Gier – Rückeroberungen
Wir kennen die Welt von morgen noch nicht. Wir müssen auf Sicht fahren. Dazu brauchen wir Austausch und Visionen. Die Echoräume dieser Gesellschaft mit ihren Denkverboten und Glaubensvorstellungen hindern daran. Wir müssen selbst denken und weiter denken. Es geht um demokratische selbstbestimmte Interpretationen der so genannten Wirklichkeit. Dazu demnächst mehr in Teil 2 dieses Artikels.
Rückeroberungen: Humboldstraße, Bremen