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»Cabaret« am Bremer Theater als Vexierbild unserer Zeit

Das Bremer Theater am Goetheplatz

Von Otto Bürger

Am 3. Mai feierte am Bremer Theater das Musical „Cabaret“ Premiere. Das Stück, das 1966 in New York uraufgeführt wurde, spielt im legendären Kit-Kat-Club im Berlin der 1930er Jahre. Einem breiteren Publikum bekannt wurde es durch die mehrfach oscarprämierte Verfilmung mit Liza Minelli aus dem Jahr 1972. In dem Musical wird eine Stimmung beschrieben, die viele in der einen oder anderen Weise heute wiedererkennen mögen. „Der Zeitgeist in der deutschen Hauptstadt ist geprägt von Liebe, Lust und Leidenschaft, Sex, Rausch und Kunst – sowie von Armut und scheiternder Politik“, schreibt das Theater. Damit ist die Verbindung, die das Stück zur Jetztzeit aufzeigt, bereits gut beschrieben.

Die Gegenwart mit ihrer besonderen Stimmung, bei der Veränderung in der Luft liegt, wird von zwei vermeintlich diametralen und sich feindlich gegenüber stehenden gesellschaftlichen Gruppen betrachtet. Die Inszenierung lässt beide Sichtweisen auf das Stück zu, und dafür muss man dem Regisseur Andreas Kriegenburg dankbar sein. Ihm ist etwas ganz Besonderes gelungen, das in dieser Weise wohl nicht beabsichtigt war und sich dadurch zu wirklicher Kunst erhebt: Denkräume werden geschaffen schaffen bzw. geweitet.

Das Stück lässt sich mit einem Vexierbild vergleichen, also einem Bild, in dem je nach Betrachtungsweise unterschiedliche Motive erkannt werden können. Ein berühmtes Vexierbild ist die Zeichnung, in der manche Betrachter eine Greisin und manche eine junge Frau sehen. Auf gleiche Weise erkennen oder befürchten in Deutschland heute verschiedene, teilweise verfeindete gesellschaftliche Gruppen Tendenzen zu einem totalitären Staat: Für die einen ist dieser bereits existent und verstärkt sich immer mehr, für die anderen zeichnet er sich erst bedrohlich ab durch eine stärker werdende Rechte und insbesondere die Partei AfD.

Dadurch, dass das Theater Bremen – ebenso wie übrigens auch das Staatstheater Oldenburg – sich dieses Stückes annimmt, wird deutlich, wie die ungewöhnliche Stimmung in unserer Gesellschaft bereits wahrgenommen wird, wenn auch die Interpretation der Lage durch verschiedene gesellschaftliche Gruppen recht unterschiedlich ausfällt. Das Motto

Nie wieder ist jetzt! Gemeinsam gegen Rechts!

steht für den Teil der Zuschauer, der in den damaligen Nazis vermutlich die heutigen Rechten und wahrscheinlich die AfD wiedererkennt. Im Stück wird eine heitere, offene und ausschweifende Gesellschaft gezeigt. Das mag die Freiheit des Lebens symbolisieren, die im Stück jäh durch die Nazis zerstört wird. Übertragen auf heute könnte man die Gefährdung von LGBTQ+ Menschen und Einwanderern durch rechte Kräfte sehen. Im Stück werden die Nazis aus dem Ausland finanziert, heute erhält die AfD Unterstützung aus den USA, unter anderem von dem Milliardär Elon Musk und Vizepräsident Vance – so würden einige sicherlich den Vergleich ziehen. Man sieht Klimaleugner, Coronamaßnahmenkritiker, Putinversteher, Lumpenpazifisten und Trump-Anhänger in einer gefährlichen Melange gemeinsam marschieren.

Eine ganz andere Sichtweise wird durch folgendes Zitat charakterisiert:

Wenn der Faschismus wiederkehrt, wird er nicht sagen: »Ich bin der Faschismus«. Nein, er wird sagen: »Ich bin der Antifaschismus«
(Ignazio Silione zugeschrieben)

Zuschauer mit dieser Perspektive erkennen in der heiter frivolen Szenerie von damals die heutige Gesellschaft in ihrer Überdrehtheit wieder, eine Gesellschaft, in der vermeintlich alles geht. Man kann beliebig sein Geschlecht wechseln – die Party geht munter weiter, solange noch genug Geld durch jedes Maß übersteigende Schulden vorhanden ist („Money makes the world go round“). In dieser Überdrehtheit werden die Dinge, die gerade tatsächlich vor sich gehen, überspielt und von den meisten Menschen überhaupt nicht wahrgenommen: Der sich immer totalitärer gebärdende Staat wird nicht erkannt. Die Medien werden aus dem Ausland finanziert, so dass sie nicht neutral und ausgewogen über die Tatsachen berichten, sondern wie gleichgeschaltet wirken. Die Gesellschaft läuft bei vielen Themen, wie Klima, Zuwanderung, Kriegslüsternheit, „Gegen Rechts“, immer mehr im Gleichschritt; eine breite und offene Debatte zu den Themen wird nicht mehr zugelassen. Wegen zweifelhaften Vorwürfen werden Hausdurchsuchungen durchgeführt, Untersuchungshaft angeordnet und Strafbefehle erteilt. Der größten Oppositionspartei droht ein Parteiverbot. Vielen Menschen sind diese Entwicklungen so nahe gegangen, dass sie das Land bereits verlassen haben oder Überlegungen in diese Richtung anstellen. Soweit die andere Sicht.

Wie auf die Inszenierung so schauen die beiden Gruppen auch auf die realen Geschehnisse unserer Tage aus ihrem ganz eigenen Blickwinkel. Ein offener Austausch der beiden Sichtweisen ohne Be- und Abwertung der jeweils anderen Seite erfolgt kaum; bislang fehlt der Raum dafür. Deshalb wäre es großartig, wenn über das „Cabaret“-Musical ein solcher Austausch gelänge. Das Theater Bremen könnte dazu einen wichtigen gesellschaftlichen Beitrag leisten. Eine respektvolle Debatte und eine offene Diskussion auf Augenhöhe könnte die gegensätzlichen Perspektiven sichtbar machen und damit den Raum und die Möglichkeit schaffen, die so oft beklagte Spaltung der Gesellschaft zu benennen und ein Stück weit zu überwinden. Die Kunst könnte das schaffen, was der Politik im Augenblick nicht gelingt: eine Begegnung zwischen Menschen ermöglichen, bei der unterschiedliche Meinungen und Ängste geäußert werden dürfen, ohne dass pauschale Zuschreibungen und Abwertungen zu befürchten sind.

Ich bin gespannt, ob und was sich entwickelt.

Dieser Text spiegelt die Ansichten und Ziele einer Einzelperson wider. Er stellt nicht die offizielle Haltung des Landesverbands oder der Gesamtpartei dar. Sachliche Kritik und Gegenmeinungen werden an dieser Stelle gern veröffentlicht.