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Gespräch mit einer Lehrerin

Anne Holefleisch im Gespräch mit Hanna Becker, Lehrerin

Anne: Wenn du an deine Schulzeit zurückdenkst, welches Erlebnis, ein positives oder auch ein negatives Beispiel, ist dir am meisten in Erinnerung geblieben?

Hanna: Das liegt ja nun schon lange zurück. Vor allem erinnere ich mich daran, dass ich mit der Einschulung anfing, an meinen Fingernägeln zu kauen und nach dem Abitur hörte das einfach auf. Auch wenn ich mich soweit wohlgefühlt habe, sehe ich das als einen ständigen Druck an, unter dem wir in der Schule standen. Allerdings war Schule in den 1970er und 80er Jahren noch deutlich freier, als das heute der Fall ist. Wir hatten ja höchsten bis mittags Schule, nachmittags hatten wir frei, viel Hausaufgaben hatten wir nicht und haben meist draußen gespielt und uns mit Freunden getroffen. Schule war einfach noch nicht so dominierend im Leben, wir haben auch noch andere Sachen gemacht.

Anne: Wenn du noch einmal zur Schule gehen könntest, wie sähe deine Wunsch-Schule aus?

Hanna: Ich stelle mir ein Lernzentrum vor, das auf freiwilliger Basis funktioniert. Wer etwas lernen möchte – unabhängig vom Alter – geht ins Lernzentrum und lernt. Natürlich müssten die Angebote viel breiter gestreut sein, auch viel Kunsthandwerk, Kochen, Experimentieren, Permakultur, Tierhaltung, Konzerte, verschiedene Sprachen und Kulturen kennenlernen etc. Es müsste eine Liste geben, wo man Wünsche einträgt. Und wer etwas lehren möchte, kann das unabhängig vom Alter auch anbieten. So würde ein Geben und Nehmen beim Lernen entstehen. Jeder könnte auch mal in die Rolle des Lehrers schlüpfen. Aber es gehört noch mehr dazu, z.B. dass nicht alle zur gleichen Zeit anfangen müssen. Gerade Jugendliche kommen morgens meist schlechter aus dem Bett und viele würden z.B. lieber erst um 9 Uhr anfangen und andere vielleicht schon um 7 Uhr – warum auch nicht? Dann würden sich die Schüler mehr über den ganzen Tag verteilen und es wären nicht immer so viele zeitgleich anwesend. Schulen müssten auch gemütlich sein, so dass sich alle darin wohlfühlen – Schüler und Lehrer. Außerdem halte ich gerade bei den jüngeren Schülern kleine Schulen für viel besser geeignet. Erst bei den Jugendlichen brauchen die Schüler manchmal mehr Auswahl an anderen Jugendlichen. Ich stelle mir Schule als Lebensraum vor, in dem man gerne zusammenkommt, sich unterhält, viel spielt, diskutiert, eben mit anderen zusammen im weitesten Sinne lernt, was man für sein Leben benötigt, um es auch selber zu gestalten.

Anne: Mein Partner und ich leiten zusammen Kinderferienprojekte, 9 von 10 Kindern sagen, dass sie nicht gerne zur Schule gehen „Schule ist langweilig“ „Die Lehrer sind doof“ Was ist deine Erfahrung? Liegt das an den vorgeschriebenen Lehrplänen, an die sich die Lehrer halten müssen?

Hanna: Naja, aus meiner Sicht wäre in der Schule schon mehr möglich, als realisiert wird. Die Kerncurricula lassen ja schon einen gewissen Spielraum. Aber tatsächlich finde ich es eigenartig, wenn eine Riege von meist alten Männern entscheidet, was gewissermaßen ihre Enkelkinder lernen sollen. Das geht doch völlig an der Lebenswirklichkeit der Kinder und Jugendlichen vorbei. Dahinter steckt ja die Praxis, dass alte Männer bestimmen, was Kinder und Jugendliche lernen sollen. Sie meinen zu wissen, was in späteren Jahren einmal wichtig sein wird. Aber heutzutage dreht sich die Welt so schnell, dass das völlig absurd ist. Und zudem hat man ja kurz nach seinem Abschluss das meiste gleich wieder vergessen. Wozu das Ganze also? Es gibt ja auch die Theorie, dass die Kinder in der Schule vor allem lernen sollen, dass sie tun, was man ihnen sagt. Dass sie nach 45 Minuten ihren Stift beiseitelegen und das nächste Fach lernen, unabhängig davon, ob sie das interessiert oder nicht. Sie sollen einfach lernen, den Vorgaben zu gehorchen. Seien wir ehrlich: Wer braucht nach seinem Abitur noch Sinus und Kosinusberechnungen und wofür haben die meisten Latein gelernt? Nur um das wieder zu vergessen?

Anne: Welche Eigenschaften müssen für dich Lehrer haben?

Hanna: Lehrer sollten vor allem beziehungsfähig sein und Kindern auf Augenhöhe begegnen können. Toll ist es natürlich, wenn sie ihr Fach lieben und dafür brennen. Begeisterung überträgt sich ganz wunderbar auf Kinder. Aber der größte Fachidiot kann Kindern nichts beibringen, wenn er nicht gut mit Kindern umgehen kann. Dagegen kann ein empathischer Lehrer, der die Kinder achtet und respektiert, darauf bauen, dass die Kinder ihm zuhören und mitarbeiten. Und kann er doch mal eine Frage nicht gleich beantworten, kann er dazu stehen und zeigen, dass er auch nicht allwissend ist. Und in der nächsten Stunde hat er sich dann erkundigt und kann die Fragen der Schüler beantworten. Vielleicht machen nicht immer alle Kinder mit, aber zumindest eine ganze Reihe. Und das reicht ja auch, es müssen nicht immer alle Schüler dasselbe zur gleichen Zeit lernen.

Anne: Ich finde projektbezogenen Unterricht ganz toll, ich würde gerne mit Kindern ein ökologisches Strohballenhaus bauen – für mich die Architektur der Zukunft. Die Kinder müssten sich mit Mathematik, Statik, Materialien und Architektur beschäftigen. Ein anderes Beispiel wäre ein Schiff zu bauen. Wie denkst du über projektbezogenen Unterricht?

Hanna: Ich finde Projektunterricht als eine Möglichkeit wunderbar. Aus meiner Erfahrung weiß ich, dass Schüler das auch meist super finden. Am besten eine Mischung aus Projektangeboten mit Themen, die die Lehrer begeistern, und aus Projekten, die sich die Schüler wünschen. Aber manchmal kann auch ein Vortrag passend sein oder ein Film, das hängt natürlich immer vom Thema ab. Aber insgesamt eignet sich Projektunterricht aus meiner Sicht besonders, um sich von vielen verschiedenen Seiten und mit vielen verschiedenen Methoden einem Themengebiet zu nähern. Besonders gut ist es, wenn die Schüler nicht nur mit dem Kopf lernen, sondern eben auch mit den Händen und etwas tun. Möglichst etwas Echtes, also nicht nur lernen, um des Lernens willen. Z.B. Kochen lernen und dann hinterher gemeinsam essen.

Anne: Werden an deiner Schule auch digitale Medien im Unterricht eingesetzt? Wenn ja, wie werden sie eingesetzt und wie reagieren die Schüler? Was hältst du davon?

Hanna: Ja, die älteren Schüler recherchieren an Computern, die jüngeren haben gerade beschlossen, dass sie weniger am Computer arbeiten wollen. Die meisten betrachten Computer eher als Konkurrenz zum Menschen. Sie lernen lieber mit Menschen als mit Computern.

Anne: Die Kinder, die zu uns in die Projekte kommen, sagen häufig :“das kann ich nicht, ich trau mich nicht“ Wir haben das Gefühl, dass sich die Kinder in unserem heutigen Schul – und Bildungssystem, nicht zu selbständig denkenden Menschen entwickeln können. Aus den Erzählungen der Kinder und aus unseren eigenen Beobachtungen heraus, sind die Schüler häufig negativen Bewertungen ausgesetzt. Wie soll eine zarte Kinderseele hier Selbstvertrauen gewinnen? Wie würdest du den Kindern Selbstvertrauen mit auf den Weg geben?

Hanna: Ich würde das anders formulieren, nicht „mit auf den Weg geben“. Viele Kinder haben ja Selbstvertrauen, wenn sie in die Schule kommen. Das verschwindet dann allerdings mit der Zeit bei vielen. Man wird ja in der Schule ständig beurteilt, geprüft, bewertet – das ist sicher nicht das, was Kinder sich wünschen. Erwachsene übrigens auch nicht. Wenn wir in der Schule die ganze Bewertung mal sein lassen könnten, wäre es viel entspannter und die Kinder könnten sich mehr aufs Lernen konzentrieren. Und zwar das lernen, was sie interessiert. Das kann auch BMX-Fahren oder einen Film drehen, Chinesisch lernen, Programmieren oder ein Menü kochen sein. Dann könnten sich Interessierte zusammenfinden und gemeinsam lernen. Je mehr Freiheit die Kinder haben, desto interessierter und engagierter sind sie nach meiner Erfahrung. Und je mehr Vorgaben und Druck sie unterliegen, desto weniger Lust zum Lernen haben sie. Was dann noch passiert, ist vor allem Anpassung. Anpassung an einen 45-Minuten-Rhythmus, der nicht kindergerecht ist, Anpassung an ein gleichschrittiges Lernen, das eigenes Engagement hemmt, Anpassung an vorgefertigten Lernstoff, der Neugier nimmt und Anpassung, nur zusammen mit Gleichaltrigen zu lernen, was verhindert, dass man von Älteren etwas lernt und Jüngeren etwas beibringt. Man wird zum Objekt des Lernens und geht als Subjekt verloren. Um zurück auf die Frage zu kommen: Ich würde Kindern ganz viel Freiheit lassen und viel Selbstbestimmung ermöglichen.

Anne: Wenn ich an meine Schulzeit zurückdenke, gab es immer Kinder, die gemobbt wurden. Oder anders gefragt, es gibt immer Kinder, die sind etwas „auffälliger“ und evtl. nicht so leicht zu handhaben. Wie würdest du als Lehrer damit heute umgehen? Kennst du ein Beispiel von deiner Schule?

Hanna: Meine Erfahrung ist, dass Kinder nicht von sich aus mobben, sondern, dass sie einfach Druck weitergeben. Je mehr Druck auf die Kinder ausgeübt wird, desto eher neigen sie zum Mobben. Irgendwie müssen sie den ganzen Druck wieder loswerden. Ich kenne Schulen, wo kaum Druck herrscht, wo Kinder einfach sie selber sein dürfen und da gibt es üblicherweise auch kein Problem mit Mobbing. Da sind Kinder sehr verschieden und da wird gerade diese Verschiedenheit als spannend und interessant empfunden. Wenn jedes Kind anders ist, kann man auch andere Kinder anders sein lassen. Da ist auch keine Konkurrenz um die Zuneigung des Lehrers, um gute Noten oder sonst etwas. Überhaupt spielt Konkurrenz gerade bei jahrgangsgemischten Gruppen eine geringere Rolle, weil ja klar ist, dass manche mehr und manche weniger und manche etwas ganz anderes können. Da kann evtl. das kleinste Kind am höchsten klettern und das Größte kann super vorlesen, lässt sich aber von einem Mittleren nochmal den Dreisatz erklären. Das es normal ist, dass man sich gegenseitig hilft und dass jeder anders und damit einzigartig ist.

Natürlich gibt es trotzdem auch Konflikte, aber dann setzen sich eben alle Beteiligten zusammen und reden drüber. Unter Erwachsenen wird ja – normalerweise – über Konflikte auch geredet und nicht mit Sanktionen gearbeitet. Es gibt da diese einfache Möglichkeit zu lernen, dass es von der anderen Seite ganz anders aussehen kann. Also: Man setze sich in einen Kreis, nehme 20 – 30 Tennisbälle und schütte sie vorsichtig in die Mitte. Dann prägt man sich genau ein, wo die Bälle liegen. Und dann tauscht man die Plätze und auf einmal sieht alles ganz anders aus… Wunderbare Übung. Aber zudem muss man lernen, dass sich Konflikte sowieso nicht endgültig lösen lassen. Was man lernen kann, ist die Vorgehensweise, also wie man mit Konflikten umgeht.

Anne: Phantastisch, auf diese Schule möchte ich auch gehen. Schon während du erzählst, empfinde ich eine Art Befreiung. So kann Schule auch gehen! Wie können wir daran mitwirken, dass unsere Kinder in Zukunft in den Genuss kommen, eine freie Schule, so wie du sie beschreibst, besuchen zu können?

Hanna: Was fällt mir dazu ein? Grundlage für solche Schulen ist ja ein gegenseitiger Respekt und wer wäre besser geeignet damit anzufangen als Lehrer? Deren Aufgabe ist es ja, mit gutem Beispiel voran zu gehen. Man kann an öffentlichen Schulen versuchen etwas zu ändern in Richtung Selbstbestimmung und Demokratie, z.B. immer darauf achten, dass die eigenen Kinder in der Schule mit Respekt behandelt werden. Man kann mit Politikern sprechen und sie für diese Idee begeistern. Aktuell entstehen auch bereits immer mehr solche Schulen, aber der Bedarf ist noch lange nicht gedeckt. Man kann selber solche Schulen gründen, die Privatschulfreiheit im Grundgesetz sieht diese Möglichkeit vor – auch wenn es meist ein paar Jahre dauert, bis so eine Gründung klappt.