Suche
Suche Menü

Das Märchen vom gefährlichen Schluckauf.

von Gabriele Herb


Ungeduldig schritt Fürst Heimeran vor dem Thronsaals des Königs auf und ab. Wann
er wohl endlich vorgelassen werden würde? Viel Zeit hatte er nicht — seine
Untertanen durften nichts von seiner Abwesenheit erfahren; das Volk sollte nicht
merken, dass er sich mit dem verhassten König traf. Nein — das Volk sollte gar nicht
wissen, dass es diesen König überhaupt gab. In jeder Stadt, jedem Dorf und jedem
Weiler seines Fürstentums hatten Boten verlesen, dass der Fürst unabhängig und nur
dem Wohle seines Volkes verpflichtet sei. Dass es einen König gäbe, sei ein Gerücht
— so hatten es die Boten dem Volk vorgelesen — und wer weiterhin behaupte, es
gebe einen König, dürfe keine Brieftauben mehr halten.

Endlich schwangen die schweren Türen zum Thronsaal auf und der Fürst wurde am
Thron vorbei in ein Besprechungszimmer geleitet. Dort waren bereits die Fürsten der
angrenzenden Fürstentümer versammelt — und der König, der ihnen den Rücken
zuwandte. Als er sich umdrehte, verstummte jede leise Unterhaltung, krümmten sich
Rücken und wurden Schultern hochgezogen. Keiner wagte es, den König direkt
anzublicken.

Wie immer war dieser tief verschleiert; noch nie hatte jemand sein Gesicht gesehen,
und nur die reichsten der Fürsten wurden je zu ihm vorgelassen. Für alle anderen
existierte er nur in Gerüchten und in den Liedern der Barden, die auch
„Gerüchtemacher“ genannt wurden.

„Ich danke Euch, meine Vasallen“, schnarrte der König, „Ihr habt meine Befehle
bisher gut befolgt … das Königreich ist jedoch in Gefahr — und damit auch Ihr. Das
dumme Volk merkt, dass wir nicht nur den Zehnten, sondern fast die Hälfte der Ernte
für uns beanspruchen. Sie wollen Frieden mit den Nachbarländern. Sie verlangen,
dass wir weniger Goldtaler für Streitäxte und Schwerter ausgeben und mehr für den
Hüttenbau und die Ausbildung von Heilern und Heilerinnen. Zudem ist
durchgesickert, dass wir uns beim Handel über See verschätzt haben und die
Staatskassen bald leer sind.“ Da grinsten die Fürsten verstohlen — wussten sie doch,
dass die leeren Staatskassen auch damit zu tun hatten, dass sie sich selbst immer
wieder großzügig daraus bedient hatten.

„Das dumme Volk wird unruhig“, sprach der König weiter, „und es ist an der Zeit, es
zum Schweigen zu bringen!“

„Ja, mein König, wir haben es lange genug mit süßen Worten beruhigt“, wagte sich
Fürst Karlo vor, „wir sollten ihm endlich zeigen, dass es nichts zu sagen hat. Viel zu
lange haben wir Eingeständnisse gemacht und den stinkenden Massen erlaubt,
aufrecht zu gehen!“

„Und das hat sie nur frecher und dreister werden lassen!“, sprach ein anderer, „ Es
gibt jetzt sogar schon welche, die darüber mitbestimmen wollen, wieviel Ernte sie
abgeben sollen! Hat man sowas schon gehört!“

Nun redeten sie alle durcheinander und übertrafen sich in Schilderungen, wie frech,
unverschämt und dreist diese Läuseträger und Schweinetreiber geworden seien, und
dass man sie endlich ihrer wahren Bestimmung zuführen müsse — Arbeitstiere für
die Fürsten und den König zu sein.

„Das werden sie aber nicht ohne Widerrede mit sich machen lassen, mein König“,
wandte nun Fürst Bodo ein. „Schließlich haben wir ja ein Dekret, das ihnen ihre
Rechte zusichert.“

„Ach, das Dekret“, sagte der König abfällig, „das ist das Papier nicht wert, auf dem
es steht, und das wisst Ihr alle! Lasst es uns einfach abschaffen! Weg mit dem
Dekret!“

„Bei allem Respekt, Herr König, das können wir nicht. Da würde jeder dieser
Schweinehirten und Dungsammler zu Mistgabeln und Dreschflegeln greifen. Nein –
wir müssen das subtiler machen … nach und nach mal den einen, dann den anderen
Satz streichen, und schon in ein paar Jahren ist nichts mehr davon übrig!“

„So viel Zeit haben wir nicht! Bis zu Wintersonnwende soll uns das Arbeitsvieh voll
und ganz zur Verfügung stehen! Denkt nach, Fürsten, denkt nach!“

Fürst Gido, der bis dahin schweigend zugehört hatte, strich sich über den Bart und
sagte: „Wie wäre es, die Kriecher soweit zu bringen, dass sie uns anflehen, sie zu
beschützen? Wir bräuchten eine große Gefahr, einen Überfall durch ein anderes Land
vielleicht, oder …“.

In diesem Moment wurden die Türen zum Besprechungszimmer aufgerissen und ein
Bote stolperte herein. Seine Kleidung war zerrissen, die Augen lagen tief in ihren
Höhlen und seine Lippen waren aufgesprungen. Schon nach wenigen Schritten brach
er zusammen und stammelte: „Schluckauf, mein König, im Land der roten Sonne ist
der Schluckauf ausgebrochen.“

„Der Schluckauf … interessant …“, sagte der König, „den hatten wir ja auch schonmal hier. Sprich, Bote, wie schlimm ist er?“

„Bereits mehrere Tote, mein König, aber es trifft nur die Kerzenmacher tödlich. Und von denen auch nur die, die Brandwunden haben. Ganz selten trifft es mal einen
Töpfer, aber auch der hatte meistens Brandwunden. Bei allen anderen ist er meist
nach ein paar Tagen wieder verschwunden.“

„Hmm … das wäre doch eine gute Bedrohung. Schluckauf! Es könnte jeden treffen
— wir müssen dem Kriechvolk ja nicht erklären, dass es nur die Kerzenmacher
trifft“.

„Mein König, das ist vortrefflich! Damit schlügen wir mehrere Fliegen mit einer
Klappe. Das Lumpengesindel bekäme Angst und wir könnten das Dekret schnell
außer Kraft setzen!“

„Und wenn wir es klug genug anstellen, bringen wir das Pack auch noch um alle
Vorräte und Ersparnisse, damit es gezwungen ist, für uns zu arbeiten!“

Wieder redeten alle durcheinander, jeder hatte etwas dazu beizutragen, wie man die
Kartoffelfresser in Angst und Schrecken versetzen, mundtot machen und schließlich
so weit ruinieren könne, dass sie für Wasser und Brot von Sonnenauf- bis
Sonnenuntergang für die Fürsten — und für den König, das sollten sie aber nicht
wissen — arbeiten würden. Sie berieten die ganze Nacht, und im Morgengrauen hatten sie ihre Strategie entwickelt. Sie bestand aus mehreren Schritten:

  1. Wir kündigen den Menschen einen tödlichen, ansteckenden Schluckauf an, der
    alle befallen kann – das versetzt sie in Angst und Schrecken und sie akzeptieren,
    dass man sich in solchen schlimmen Zeiten nicht ganz an das Dekret halten kann.
  2. Wir bieten ihnen Schutz vor Ansteckung durch Wachs in den Ohren und Säcken
    über den Köpfen – dann können sie sich nicht mehr untereinander austauschen.
  3. Um zu verhindern, dass sie von anderen Ländern hören, in denen der Schluckauf
    glimpflich verlief, töten wir alle Brieftauben.
  4. Um zu überprüfen, dass das Volk die Maßnahmen befolgt, stellen wir in jedem
    Haushalt einen Gärtner als Spitzel ein. Da nicht genug Wachs und Leinensäcke
    zur Verfügung stehen, müssen die Gärtner ohne diese auskommen. Sollten sie
    sich anstecken, werden sie ausgetauscht.
  5. Bei Nichtbefolgung der Verordnungen drohen wir damit, dass der Verbrecher in
    die Wälder geschickt wird. Das wird die meisten davon abhalten, gegen die
    Regeln zu verstoßen. Man wird natürlich tunlichst vermeiden, die Nichtbefolger
    in die Wälder zu schicken — schließlich brauchen wir sie ja noch als Arbeitsvieh.
  6. Renitente Kartoffelfresser bekommen stattdessen eine 15 Meter lange Kette am
    linken Bein angebracht. Damit ist gewährleistet, dass sich niemand zu weit von
    seinem Haus entfernt und sich möglicherweise mit anderen austauscht.
  7. Alle Essensvorräte des Volkes werden an einer zentralen Stelle gesammelt und
    von dort aus verteilt. Jeder bekommt nur das absolut Notwendige; die Fürsten
    dürfen sich nach Belieben bedienen.
  8. Sollte sich doch jemand anstecken, darf er uns ein Heilmittel abkaufen. Dieses
    wird so teuer sein, dass er bis an sein Lebensende in unserer Schuld steht.So
    gewinnen wir Leibeigene.
  9. Wir lassen zwischendurch immer wieder durchsickern, dass in den Nachbarorten
    schon viele Menschen an Schluckauf erkrankt und gestorben sind, das hält den
    Angstpegel hoch.
  10. Wenn die Angst groß genug ist, bieten wir ein Heilmittel an, das man vorsorglich
    einnehmen kann und das vor einer Ansteckung schützen soll. Damit füllen wir
    unsere Truhen bis zum Überquellen mit Goldtalern. Es wird nicht viel nützen und
    den einen oder anderen kränker machen, aber egal. Denen, die es nicht nehmen
    wollen, wird es zwangsverabreicht.

Noch vor Sonnenaufgang wurden Boten in das ganze Land geschickt, die in jeder
Stadt, jedem Dorf und jedem Weiler Folgendes verlasen:

„Geliebtes Volk! Es schmerzt uns sehr, Euch mitteilen zu müssen, dass im Land der
roten Sonne der Schluckauf ausgebrochen ist. Wir erwarten in Kürze, dass er auch
hier sein Unwesen treiben wird. Er ist viel gefährlicher als jeder Schluckauf, den wir
kennen, ja er ist fast sofort tödlich für jeden — Mann und Frau, jung und alt, dick und
dünn. Man bekommt ihn schon dadurch, dass man den Schluckauf eines anderen nur
hört — deswegen müssen nun alle, aber wirklich auch alle, in Zukunft ihre Ohren mit
Wachs versiegeln!“


„Aber dann hören wir einander ja nicht mehr!“ riefen ein paar Frauen.
„Das mag sein, aber unser Fürst in seiner Weisheit und Güte sagt, dass das sein muss.
Und weil die Versiegelung vielleicht nicht immer ganz dicht ist“, fuhr der Bote fort,
„müssen sich alle einen dunklen Sack über den Kopf ziehen!“

Da rief ein kleines Kind: „Aber dann sehen wir ja nichts mehr!“
„Da hast Du Recht, mein Kind, aber unser weiser Fürst hat auch dafür vorgesorgt.

Nun lass´ mich weiter vorlesen. Unser Fürst stellt jedem Haushalt einen Helfer zur
Verfügung, der die, die nichts sehen können, versorgt. Diese Helfer werden aus den
Reihen der Gärtner rekrutiert. Es werden Reiter durch das Land geschickt, die
überprüfen, ob jeder seine Ohren versiegelt und den Sack über den Kopf gezogen hat.
Wer dabei erwischt wird, gegen diese Order zu verstoßen, wird in die Wälder geschickt!“ Da ging ein erschrockenes Raunen durch die Mengen; die Wälder — dort lebten die Wölfe, die einen sofort zerrissen!

„Weil Brieftauben den Schluckauf übertragen können, werden wir sie alle an einen
sicheren Ort bringen, wo sie niemanden anstecken können. Wenn der Schluckauf
ausgerottet ist, bekommt jeder seine Taube wieder.“

Da fielen viele Mädchen schluchzend auf den Boden und jammerten: „Aber meine
Brieftaube ist auch meine beste Freundin! Ohne sie kann ich nicht sein. Da werde ich
sehr sehr traurig und kann nicht mehr schlafen!“

Unbeirrt las der Bote weiter vor:

„Damit die Versorgung aller mit Essen und Trinken
gewährleistet wird, werden alle Vorräte eingesammelt und dann gerecht verteilt.
Keiner wird Hunger leiden. Sollte sich trotz dieser Maßnahmen jemand anstecken,
stellt unsere weiser und gütiger Fürst ein Heilmittel fast ohne Gegengabe zur
Verfügung. Er hat bereits die besten Heiler des Landes damit beauftragt, ein
Heilmittel zu entwickeln, das man vorsorglich einnehmen kann — auch nur für eine
geringe Gegengabe. Nun dankt Eurem gütigen und wohlwollenden Fürsten dadurch,
dass Ihr in Eure Häuser geht und seine weisen Anweisungen befolgt!“


Bedrückt und ängstlich schlichen die meisten in ihre Häuser. Ein paar jedoch zogen
es vor, in die Wälder zu ziehen — nur um zu entdecken, dass es dort gar keine
reißenden Wölfe gab, sondern klare Bäche, Beeren in Hülle und Fülle und weiter
oben, den Bächen folgend, sogar eine kleine Siedlung mit Menschen, die schon vor
Jahren in die Wälder gezogen waren. Dort wurde gesungen und gelacht, und als die
neu Hinzugekommenen von dem tödlichen Schluckauf erzählten, der bald unten im
Tal wüten würde, bekamen die Waldmenschen, die die Lügen der Fürsten
durchschauten, einen Schluckauf – vor Lachen.

Sie sind daran nicht gestorben und leben noch heute glücklich und zufrieden.